Die Finanzverwaltung hat mit dem BMF-Schreiben IV A 3 - S 0550/21/10001 :001 vom 11. Januar 2022 zu Anwendungsfragen zu § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung Stellung genommen. Anwendung findet es auf alle Insolvenzverfahren, für die ab dem 01. Januar 2021 die Eröffnung beantragt wurde. Für alle Insolvenzverfahren, deren Eröffnung vor dem 01. Januar 2021 beantragt wurde, gelten auch weiterhin die Regelungen des BMF-Schreibens IV A 3 - S 0550/10/10020-05 -, BStBl I S. 476 vom 20. Mai 2015. Ergänzt wurde dieses BMF-Schreiben durch das BMF-Schreiben IV A 3 - S 0550/10/10020-05 -, BStBl I S. 886 vom 18. November 2015.
Historie
Der Gesetzgeber führte im Jahr
2011 mit dem § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung eine bevorzugte Behandlung von Steuerforderungen innerhalb des Insolvenzverfahrens ein. Alle Steuerverbindlichkeiten, die mit oder von der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters entstanden sind, gehören zu den bevorzugt zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten. Ausgeschlossen wurde die Anwendung auf die vorläufige Eigenverwaltung.
Die
European Smalltalk User Group (ESUG) reformierte das Insolvenzrecht. Der Gesetzgeber führte daraufhin im Jahr 2012 mittels der Regelung des § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung wieder ein
Fiskusprivileg ein, welches jedoch beschränkt wurde. Dieses Fiskusprivileg beinhaltet, dass unter ganz bestimmten Umständen Forderungen aus Steuern, die vor der Insolvenzverfahrenseröffnung entstanden sind, als Masseforderungen deklariert wurden. Der genaue Wortlaut lautet:
„Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit”.
Damit hat sich die Finanzverwaltung ein Privileg eingeräumt.
Forderungen aus Steuern, die generell als einfache Insolvenzforderungen (§ 38 Insolvenzordnung) einzustufen gewesen wären, werden nun in den Rang der
Masseforderungen erhoben. Als einfache Insolvenzforderungen wären die Steuerforderungen nur durch die Insolvenzquote befriedigt worden. Als Masseforderungen werden diese Steuerforderungen nun nach den gesetzlichen Regelungen des § 55 Insolvenzordnung vorrangig zu bedienen sein.
Kritisiert wurde diese
Ungleichbehandlung zwischen dem Regelverfahren und dem Eigenverwaltungsverfahren nicht nur durch den Bundesgerichtshof im Jahr 2018 und dem Bundesfinanzhof 2020. Der Gesetzgeber nahm diese Kritik allerdings nicht zum Anlass, das Fiskusprivileg und die Einstellung dazu noch einmal zu überdenken. Stattdessen war er dahingehend konsequent, diese Regel auf die vorläufige Eigenverwaltung auszudehnen. Die Steuerarten wurden dabei jedoch beschränkt. Die Körperschafts- und Einkommenssteuer blieben außen vor. Der genaue Wortlaut des § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung lautet in der Fassung des
Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG) wie folgt:
„Umsatzsteuerverbindlichkeiten des Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind, gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. Den Umsatzsteuerverbindlichkeiten stehen die folgenden Verbindlichkeiten gleich:
1. sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben,
2. bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuern,
3. die Luftverkehr- und die Kraftfahrzeugsteuer und
4. die Lohnsteuer.„
Neuordnung des Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz
Im Rahmen des
Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes hat sich der Gesetzgeber gegen die Rechtsprechung gestellt. Ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt. Durch das Gesetz konnte der § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung auch auf die vorläufige Eigenverwaltung und den dem Schuldner an die Seite gestellten vorläufigen Sachverwalter Anwendung finden. Die vorläufige Regelverwaltung und die vorläufige Eigenverwaltung waren somit gleichgestellt. Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber den falschen Anreiz für Schuldner abschaffen wollte, die Eigenverwaltung dem Regelverfahren vorzuziehen. Gleichzeitig fand eine
Beschränkung der Steuerarten statt.
Das BMF-Schreiben
Das BMF-Schreiben IV A 3 - S 0550/21/10001 :001 ist nun eine Ergänzung für das BMF-Schreiben vom 20. Mai 2015. Mit diesem Schreiben wird die Anwendbarkeit des § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung auf die vorläufige Eigenverwaltung klargestellt. Der rechtliche Status des vorläufigen Insolvenz- oder Sachverwalters ändert sich nicht. Das Steuerrechtsverhältnis bleibt unberührt. Alle
steuerlichen Pflichten liegen damit bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch
weiterhin beim Schuldner. Der vorläufige Sachverwalter ist kein Vermögensverwalter i. S. d. § 34 Abs. 3 Abgabenordnung. Daher ist er auch nicht in der Pflicht, den Steuererklärungspflichten für den Schuldner nachzukommen. Wurde das Insolvenzverfahren eröffnet, so besteht
vonseiten des Insolvenzverwalters eine Mitwirkungspflicht dahingehend, dass dem Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen mitzuteilen sind, die unter § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung fallen. Bei der Eigenverwaltung liegt diese Pflicht auf den Schultern des Schuldners.
Sollen Einwendungen gegen die
Zuordnung als Masseverbindlichkeit geltend gemacht werden, so sind die allgemeinen Grundsätze anzuwenden. Das betrifft ganz besonders den Einspruch gegen Umsatzsteuer- und Lohnsteuerfestsetzungen. Alle Rechte, die dem Schuldner nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugestanden hätten, können durch den Insolvenzverwalter wahrgenommen werden. Bei der Eigenverwaltung stehen diese Rechte nur dem Schuldner selbst zu.
Innerhalb der
vorläufigen Eigenverwaltung ist die Umsatzberichtigung wegen Uneinbringlichkeit aus Rechtsgründen laut BMF-Schreiben jetzt möglich. Wird ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt bestellt und hat er das Recht zum Einzug der Forderungen oder ist er zur Kassenführung berechtigt, so werden bei einer Besteuerung nach vereinbarten Entgelten die noch offenen Entgelte für bereits erbrachte Leistungen vor der Anordnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens aus Rechtsgründen uneinbringlich. Auch Entgelte für Leistungen, die der Schuldner zwischen der Bestellung derselben und der Beendigung des Insolvenzeröffnungsverfahrens erbringt, werden uneinbringlich. (§§ 26 + 27 Insolvenzordnung)
Nach Auffassung des BFH ist hierfür der § 80 Abs. 1 Insolvenzordnung maßgeblich. Er besagt: “Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über.” Der schwache vorläufige Insolvenzverwalter hat also das Recht zum Forderungseinzug, währenddessen der Insolvenzschuldner aus rein rechtlichen Gründen seine Entgeltforderungen nicht mehr vereinnahmen kann. Die Entgeltforderungen sind im Rahmen der Masseverwaltung und -verwertung zu vereinnahmen und gehören zu den Masseverbindlichkeiten. Durch den BFH wurden die rechtlichen Auswirkungen also auf den Zeitpunkt der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters vorverlegt. (BFH Urteil v. 09.12.2010 - V R 22/10 BStBl 2011 II S. 996)
Das Gleiche gilt für den Schuldner, wenn ein vorläufiger Sachverwalter in Eigenverwaltung bestellt wurde. Der Schuldner in Eigenverwaltung hat ein
Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis. Darüber hinaus auch ein
Vereinnahmungsbefugnis. (§§ 270 ff. Insolvenzordnung) Daher vereinnahmt er bereits im Insolvenzeröffnungsverfahren für die Insolvenzmasse und begründet gleichzeitig Masseverbindlichkeiten. (§ 55 Abs. 4 Insolvenzordnung)
Erfolgt die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten, so erfolgt nach der Uneinbringlichkeit eine zweite Berichtigung durch die Vereinnahmung des Entgelts nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG. Wichtig zu wissen ist hierbei, dass diese zweite Berichtigung im Gegensatz zur ersten Berichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 UStG in der Insolvenzmasse erfolgt und sich daraus Masseverbindlichkeiten ergeben. (§ 55 Abs. 4 Insolvenzordnung) Laut dem BMF ist diese zweite Berichtigung jedoch nur im Falle der vorläufigen Eigenverwaltung anzuwenden.
Was sich nicht verändert hat, ist die Zuordnung und Geltendmachung der Masseverbindlichkeiten in Bezug auf die Umsatzsteuer. Die
Lohnsteuer wird genauso behandelt wie die Umsatzsteuer. Genaue Ausführungen sind im BMF-Schreiben vom 11. Januar 2022 zu finden. (IV A 3 - S 0550/21/10001 :001) In der vorläufigen Eigenverwaltung erfolgt eine analoge Anwendung. Der Schuldner in Eigenverwaltung nimmt dabei die Stelle des Insolvenzverwalters ein. Die sich aus den Voranmeldungszeiträumen ergebenden Masseverbindlichkeiten des vorläufigen Insolvenzverfahrens sind gegenüber dem Schuldner festzusetzen und anschließend bekannt zu geben.
Fazit
An den bisherigen Regelungen wurde also vonseiten des BMF festgehalten. Die
Anwendung wird lediglich erweitert auf die Fälle der vorläufigen Eigenverwaltung.
Planungssicherheit besteht allerdings für die Lohn- und Umsatzsteuer. Zu klären sein wird die Frage nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Grundgesetz. Nachdem die Insolvenzmasse geringer wird, dürften sich die Aussichten der Gläubiger auf Befriedigung ihrer Forderungen wesentlich verschlechtern. Auch die Aussichten auf Sanierung des Unternehmens werden gemindert. Die Absicht war eigentlich, die Sanierung von Unternehmen zu fördern. Das ist wohl eher als nicht gelungen einzustufen. Ob mit diesem BMF-Schreiben bereits Rechtssicherheit besteht, bleibt abzuwarten, ebenso die Rechtsprechung der obersten Gerichte.
letzte Änderung B.W.
am 16.03.2023
Autor(en):
Birgit Wichmann
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Autor:in
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Birgit Wichmann
Birgit Wichmann ist seit zehn Jahren Autorin, Texterin und Lektorin. Sie schreibt als ausgebildete Steuerberaterin in Deutschland mit mehr als 30 Jahren Erfahrung als Bilanzbuchhalterin, kaufmännische Leiterin und kaufmännische Geschäftsführerin Fachartikel zum Thema Steuern/Rechnungswesen für verschiedene Onlineportale, textet für Websites und Onlinemagazine. Als mehrfache Bestsellerautorin mit vier Preisverleihungen hat sie sich auf historische Romane und Kinderbücher spezialisiert.
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