Nicht nur in Zeiten der Krise, sondern auch im
konjunkturellen Aufschwung ist
Working Capital Management ein Thema um Chancen nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Viele Firmen müssen in Vorleistung gehen, doch ihre Liquiditätspolster sind durch eine möglicherweise gerade überstandene Krise aufgezehrt. Laut der aktuellen Studie "Cash for Growth" von Roland Berger Strategy Consultants und Creditreform beläuft sich der
Liquiditätsengpass im deutschen Mittelstand bis 2013 auf bis zu 50 Mrd. Euro.
Doch Liquidität ist und bleibt nun mal die Luft zum Atmen und gerade in mittelständischen Unternehmen kann diese sehr schnell knapp werden. Auch in Wachstumsphasen gerät selbst ein augenscheinlich gesundes Unternehmen schnell in
Liquiditätsprobleme: steigende Auftragseingänge müssen vorfinanziert werden, Außenstände werden durch verspätete Zahlungseingänge nicht zeitnah realisiert, die eigenen Werte sind im
Anlagevermögen gebunden, Bankkredite zur Überbrückung sind schwierig zu erhalten.
"Working Capital Management"
Hinter "Working Capital Management" stecken ganz
pragmatische Prozesse oder Möglichkeiten, die helfen können, die Liquidität des Unternehmens zu sichern und zu verbessern. Und zwar ohne zusätzliche
Bankdarlehen oder frisches Beteiligungskapital:
Forderungen konsequent managen,
Verbindlichkeiten optimieren,
Vorräte minimieren.
Zugegeben: Augenmaß ist auch hier entscheidend! Nicht immer stehen die Vorteile im Verhältnis zu den potentiellen Risiken. Doch schauen wir uns zunächst die trockene Definition gemäß der einfachen betriebswirtschaftlichen Gleichung von Working Capital an: "
Umlaufvermögen minus kurzfristige Verbindlichkeiten". Soweit, so wenig gut! Füllen wir es mit Leben.
Working Capital Management setzt an den
drei wesentlichen, im Unternehmen ablaufenden
Basisprozessen an:
- Order-to-Cash (vom Auftragseingang zum Zahlungseingang)
- Purchase-to-Pay (von der Beschaffung zum Zahlungsausgang)
- Forcast-to-Fulfill (von der Planung zur Leistung)
Anhand eines vereinfachten
Rechenbeispiels kann gezeigt werden, in welchem Ausmaß hierin Liquiditätspotentiale jenseits von
Bilanz,
GuV und Co. in Unternehmen schlummern:
Wir nehmen ein mittelständisches Maschinenbauunternehmen mit 50 Mio. € Umsatz und gehen davon aus, dass die durchschnittliche Forderungslaufzeit vom Zeitpunkt der Rechnungsstellung bis zum Zahlungseingang auf dem Bankkonto, die sog.
Days Sales Outstanding (DSO), bei 55 Tagen liegt. Der durchschnittliche Forderungsbestand aus (DSO × Umsatz) / 365 Tage liegt somit bei (55 Tage × 50 Mio. €) / 365 Tage = ca. 7,5 Mio €. Daraus folgt, dass der Forderungsbestand pro Tag näherungsweise bei ca. 137 T€ liegt (7,5 Mio. € / 55 Tage).
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Die Klassenbesten im Bereich Maschinen- und Anlagenbau erreichen, wie Studien regelmäßig zeigen, durchaus einen Bereich von 45 Tagen DSO oder weniger. Gelänge es dem Unternehmen nun also mit einer Reihe geeigneter Maßnahmen, tatsächlich seine DSO, also die durchschnittliche Forderungslaufzeit um nur 7 Tage zu reduzieren, passierte Folgendes:
Reduzierung DSO × Forderungsbestand pro Tag = 7 Tage × 137 T€ = 959 T€ . Somit stünden knapp 1 Mio. Euro, immerhin fast 2 % des Jahresumsatzes, an liquiden Mitteln zusätzlich in dieser Periode zur Verfügung, nachhaltige Zinseffekte sind an dieser Stelle noch nicht berücksichtigt. Dies klingt zugegebener Weise zu schön um wahr zu sein und gleichzeitig auch ein wenig nach "Taschenspiel-Trickserei".
Dennoch: Lässt man dies für einen Moment gedanklich sacken, bekommt man eine Vorstellung, welche Ausmaße
Liquiditätspotentiale tatsächlich annehmen können, würde man sich die Mühe machen, die anderen Working Capital relevanten Bereiche mit ähnlichen Rechenbeispielen zu belegen. Dies ist zwar ohne größere mathematischen Hürden zu leisten, soll aber an dieser Stelle unterbleiben. Regelmäßig erscheinende Studien beziffern nahezu "gebetsmühlenartig" Jahr für Jahr schlummernde Potentiale von
über 100 Milliarden € im deutschen Mittelstand. Jüngst eine gemeinsame Studie von Roland Berger Strategy Consultants und Creditreform, aus der das Wirtschaftsmagazin 'impulse' (Ausgabe 10/2011, EVT 29. September) exklusiv zitiert.
Aber wie nun diese Potentiale heben? Wo nun konkret ansetzen? Und vor allem, wie umsetzen ohne die potentiellen Risiken zu übersehen?
Nehmen wir das
Forderungs- oder
Lieferantenmanagement: Druck machen allein ist sicherlich nicht ausreichend. Setzt man Kunden zwecks zügigerer Zahlungsleistung stärker unter Druck oder verzögert man selbst Zahlungen an Lieferanten willkürlich, kann dies helfen den Anteil an gebundenen Barmittel kurzfristig zu verringern. Allerdings sind die Nachteile möglicherweise gravierend: Kunden werden verprellt und Lieferanten reagieren mit Preiserhöhung oder geringerer Leistung. Zudem ist es kein Geheimnis, dass gerade unzufriedene Kunden die Bezahlung fälliger Rechnungen hinauszögern. Daher schauen wir uns nun einige
Ansatzpunkte in den jeweiligen Prozessen an und bewerten diese wenn möglich auch kritisch:
Order-to-cash
- Zahlungsfristen stets auch aus verkaufsstrategischer Sicht minimieren: Dabei muss die Verkaufsabteilung mit ins Boot geholt werden und zusätzlich über Incentivierung motiviert werden. Beispielsweise kann der Vertrieb nur bei Zahlungseingang provisioniert werden. Dies stellt sicher, dass der Vertrieb auch liquiditäts- und damit working-capital-orientiert agiert, kann aber im Zweifel dazu führen, dass Umsätze nicht realisiert werden.
- Kenntnisse über die Bonität (Zahlungsfähigkeit und -verhalten) der zukünftigen Kunden beschaffen.
- Der Versand von Gütern oder die Leistungserbringung muss automatisch den Abrechnungsprozess auslösen: Jeder Tag der hier zwischen Auslieferung oder Leistungserbringung und Rechnungsstellung verloren geht, birgt Liquiditätsreserven. Diese zu heben sind ohne die Gefahr einer Belastung der Kundenbeziehung möglich.
- Implementierung eines standardisierten und übergreifenden Mahnprozesses mit strikten Fristen und Sanktionsmechanismen: Zusätzlich kann ein systemgestütztes Verfahren eingeführt werden, um Zuständigkeiten im Mahnverfahren zu klären und die Verantwortung an Mitarbeiter auf die jeweils höhere Ebene weiterzuleiten.
- Alternative "Factoring": Hierbei erwirbt ein Factoring-Unternehmen die offenen Forderungen, der Forderungskaufpreis wird quasi sofort bezahlt, abzüglich einer Factoringgebühr, das Ausfallrisiko reduziert sich. Nachteilig wirken sich jedoch die hohen Kosten für das Factoring aus, daher eignet sich Factoring in der Regel nur für Produzenten und Lieferanten von relativ margenträchtigen Gütern und Dienstleistungen. Darüber hinaus können Kunden mit schlechter Bonität vom Factoring ausgeschlossen werden.
- Vorhalten gepflegter Daten zum Zahlungsverhalten: Wenn Kunden häufig bei einem bestimmten Produkt die Rechnung nicht begleichen, kann dies ein Indiz für Unzufriedenheit aufgrund von Produktmängeln sein. Ein Gespräch mit dem Vertrieb bringt dann Klärung, ob diese Vermutung stimmt und welche Schritte im Weiteren notwendig sind.
Purchase-to-Pay
- Rechnungen nicht willkürlich und bis zur Überfälligkeit halten, sondern Lieferanten bezüglich Risiko- und Gewinnpositionen differenzieren und kategorisieren: Die Geschäftsbeziehungen sollten mit denjenigen Lieferanten optimiert werden, die entweder ein hohes Risiko darstellen oder eine erhebliche Auswirkung auf den Gewinn haben. Im Gegenzug empfiehlt es sich Lieferanten, die zwar ein hohes Erfüllungsrisiko darstellen, aber nur geringe Auswirkung auf den Gewinn haben, aus dem Portfolio zu entfernen.
- Automatisierung von Beschaffungsvorgängen: Für Lieferanten, die entweder ein geringes Risiko darstellen oder eine unerhebliche Auswirkung auf den Gewinn haben, kann dies mittels sogenannter "Purchase Cards" erfolgen.
- Ausreizen der Zahlungsfristen durch standardisierte Zahlungsläufe: Im Gegenzug sind hier jedoch entgangene Skontoerträge zu beachten. Daher ist es ratsam im Rahmen individueller Verträge für umsatzstarke Lieferanten Vereinbarungen vorteilhafterer Zahlungsfristen zu erreichen.
Forcast-to-Fulfill
- Verringerung der Durchlaufzeiten: Ablauf- und Organisationsstrukturen im Lager- und Produktionsbereich, Transportwege und Zwischenlager, die Ausfallrate von Maschinen und anderen technischen Geräten: Das Ziel ist die Erhöhung der Umschlagshäufigkeit durch Optimierung der gesamten Prozesskette.
- Reduzierung der Sicherheitsbestände auf ein Mindestmaß: Dabei müssen Produktionsausfälle vermieden und pünktliche Leistungserstellung dennoch garantiert sein. Eine differenzierte Bevorratungsstrategie für verschiedenartige Waren – je nachdem, wie schnell Waren ersetzt werden können und wie wichtig sie für die Produktionsvorgänge sind, kann hier Abhilfe schaffen.
- Optimierung der Sortimentspolitik
- Nachfrageorientierte Produktion
Fazit: Liquiditätspotentiale sind vorhanden, in welcher Größenordnung muss
individuell ermittelt werden. Es existieren eine Reihe von geeigneten Maßnahmen um das Working Capital zu optimieren und diese Liquiditätsreserven zu heben, wenn auch nur einige wenige in diesem Artikel angeleuchtet wurden. Allerdings beeinflussen viele Stellen eines Unternehmens die Höhe des Working Capital aus
unterschiedlichen Motiven heraus und in unterschiedliche Richtungen. Daher ist es wichtig, gegensätzliche Ziele in den Bereichen Finanzen, Vertrieb, Produktion und Einkauf zu identifizieren (Bsp. Minimaler Lagerbestand vs. Lieferfähigkeit). Spannungen müssen abgebaut, geeignete Belohnungsmechanismen eingeführt, sowie das Bewusstsein für die Relevanz des Themas gestärkt und als fester Bestandteil des Tagesgeschäftes etabliert werden. Nur ein integriertes und ganzheitliches Working Capital Management kann nachhaltig Liquiditätspotentiale heben und Spielräume für Wachstum, Darlehensrückführung, Investitionen oder Ausschüttungen schaffen.
letzte Änderung J.W.
am 16.11.2022
Autor(en):
Jochen Weinberg
Bild:
Jochen Weinberg
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